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Unterwegs mit starken Freunden

Es sind harte Zeiten für Skeptiker und Skandalreporter bei der Euro 2012 in der Ukraine. Land und vor allem Leute weigern sich seit dem EM-Start vor einer Woche beharrlich, die im Vorfeld verbreiteten Bedenken und Klischees zu erfüllen. Vom befürchteten Organisationschaos und den „versprochenen“ infrastrukturellen Problemen ist im Osten wenig zu bemerken. Charkiw und Donezk sind stimmungsvolle EM-Städte.

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Einen Abend in der Fanzone zu verbringen, stellt am Swobody-Platz von Charkiw ein wesentlich größeres Vergnügen dar als vor vier Jahren in Basel, Genf oder Zürich. Zehntausende bevölkern täglich schon bei den frühen Abendspielen (Ortszeit 19.00 Uhr) den riesigen „Platz der Freiheit“. Ausgelassene Stimmung, laute, nein sehr laute Musik, Großbildleinwände, bemalte Gesichter, keine Spur von Aggression oder den angedrohten Taschendieben - alles, wie es sein soll.

Ein Polizist begleitet niederländische Fans auf dem Marsch in Metalist-Stadion

Reuters/Vasily Fedosenko

Nicht nur die „Oranjes“ fühlen sich in Charkiw sicher und wohl

Eigenartig nur, dass es bei geschätzten 300 Getränkeverkaufsstellen nur einen einzigen, dafür aber gut versteckten Essensstand gibt. Der Fastfood-Riese mit dem großen „M“ ist Euro-Hauptsponsor, seine „Laberl“ kann man hier beim Matchschauen aber nicht genießen. Die zahlreichen niederländischen Fans scheint das nicht zu stören. Für viele von ihnen ist die Aufnahme fester Nahrung ohnehin überbewertet.

Ab in den Süden

Die östliche Ukraine hat aber nicht nur Charkiw, die Stadt von Milliardär Alexander Jaroslawski, zu bieten. Die EM-Musik spielt auch in Donezk, wo Multimilliardär Rinat Achmetow das Zepter schwingt. So wird eine kurze Nacht - im Juni ist es hier ab 4.00 Uhr früh taghell - von „Driver“ Andrej offiziell beendet. Der bullige Mann der Marke „hart, aber herzlich“ kennt den kürzesten und vor allem schnellsten Weg zum Hauptbahnhof von Charkiw - eine Perle frühsojwetischer Baukunst.

Andrej ist leidenschaftlicher Raucher. Mit Ausnahme der EM-Stadien, wo die UEFA auf qualmende Menschen erbarmungslos Jagd macht, ist die Ukraine für ihn daher ein Paradies. Man kennt sich mittlerweile und versteht sich trotz erheblicher Sprachbarrieren sehr gut. Nur am Ankunftstag war Andrej einen Augenblick lang enttäuscht, als seine eröffnende Kommunikationsfrage „Ruski?“ mit einem entschuldigenden „No“ beantwortet worden war.

Mann vor Van

ORF.at/Harald Hofstetter

Wer Andrej kennt, hat in Charkiw nichts zu befürchten

Mit Blasmusik zum nagelneuen Zug

Im Vollgasmodus „wetzt“ er den Kleinbus über noch leere Straßen. Eine Stunde vor Abfahrt des Zuges nach Donezk sind wir da. In der beeindruckenden Bahnhofshalle, wo der herbe Charme nicht wie im Umkreis der Fanzone von beliebigen UEFA-Euro-Logos zerstreut wird, sind junge Polizisten mit Schirmkappen so groß wie Autoreifen gerade „Oranje“-Fans bei der Orientierung behilflich. Aus mächtigen Lautsprechern ertönt getragene Blasmusik. Tief bewegt geht es weiter in Richtung Gleis sieben, als Andrej seinen Augen nicht traut.

Wo seit Jahrzehnten dieselben Garnituren ein- und ausfuhren, steht ein nagelneuer Zug in stromlinienförmigem Design. Als Andrej auf einen etwas weiter entfernten Bahnsteig deutet, wo gerade der übliche Pendlerzug hält, wird klar, warum er vom „Euro-2012-Train“ begeistert ist. Beim Einsteigen in Wagen sieben wird das Ticket von freundlichen Damen in Stewardessenuniformen vorerst einbehalten. Das führt reflexartig zu Unsicherheit, ist in der Ukraine aber üblich. Knapp vor der Ankunft am Zielort wird es wieder an den reservierten Platz gebracht.

Zugwaggon mit EM-Logo

ORF.at/Harald Hofstetter

Die UEFA hat auch auf die Züge nicht vergessen - das Logo drauf und los

Neben Temuri durch die Prärie

Um Punkt 6.25 Uhr geht es ab in Richtung Süden. Die Klimaanlage fegt orkanartig durch die Sitzreihen - 20 Minuten später ist die angestrebte Kühlschranktemperatur erreicht. Temuri heißt der Sitznachbar, ein 37-jähriger Kanadier mit georgischen Wurzeln. Der IT-Techniker reiste aus Toronto in die Ukraine, wo er fünf Spiele in zwölf Tagen sieht und 2.000 Kilometer an Distanzen abspult. Ticketpreise von 70 Euro pro Match bezeichnet er als „Geschenk“. Will Temuri mit seinen zwei Söhnen die Maple Leafs in der NHL sehen, legt er insgesamt 600 US-Dollar hin.

Die vorbeiziehende Landschaft erinnert an Karl May. Endlose, hügelige Weiten - grün, aber keine Büffel. Da lässt es sich wunderbar über exakte Spielverläufe und Torschützen der letzten zehn WM- und EM-Endrunden philosophieren, ohne etwas zu versäumen. Das Bord-„Wagerl“ kommt, Temuri empfiehlt Instantkaffee, man folgt dem Rat - schwerer Fehler. Das Gebräu ist gemein, fährt direkt in die Blutbahn und macht Stillsitzen in den verbleibenden drei Stunden fast unmöglich.

„Big“ Stani übernimmt in Donezk

Auf die Sekunde genau nach Zeitplan hält der Zug um 11.10 Uhr in Donezk, wo Oligarch Achmetow neben 300 Millionen Euro für die Donbass Arena noch etwas für die Modernisierung des Bahnhofs übrig hatte. Stanislaw wartet schon auf dem Bahnsteig, weil der Weg zum privat vermieteten Apartment auf eigene Faust unmöglich zu finden ist. „Stani“ ist ein Pflock von einem Mann, wie Andrej aber nur auf den ersten Blick furchteinflößend. Der mächtige Händedruck zwingt einen beinahe in die Knie - „Ruski?“ „No.“

Egal, man weiß auch so, worum es geht: „Schewtschenko, Ukraina, good!“ Da hatte der große alte Mann des ukrainischen Fußballs aber noch nicht seine zwei Tore gegen Schweden geschossen. Das nach kurzer Fahrt erreichte Quartier ist wohnlich, der Innenhof bedrohlich. Ob hier beim nächtlichen Heimkommen nach dem Spiel die Mülltonnen brennen? Da waren sie wieder, die eingebrannten Vorurteile. Stani, übrigens ein passionierter Jäger, wie er mit einigen typischen Handbewegungen erläuterte, geht jedenfalls auf Nummer sicher.

Fahrer bewacht Geldabhebung beim Bankomat

ORF/Oliver Polzer

Stanislaw hat alles im Blick - im Notfall hätte er es auch im Griff

Beim Abheben vom Bankomat baut er sich zwei Meter dahinter mit verschränkten Armen auf dem Gehsteig auf. Nicht auszudenken, was er mit einem leichtsinnigen Räuber angestellt hätte. So wird der Weg zur hypermodernen Donbass Arena ein Vergnügen. Englische und französische Fans trotzen dort der unbarmherzigen Nachmittagshitze. Auf der Pressetribüne rinnt bei Arsenal-Coach Arsene Wenger, der für das französische Fernsehen kommentiert, der Schweiß in Strömen. Auf Platz 73 c (ORF-Desk): Strom gut, Internetverbindung gut, alles gut.

Hupkonzert statt Träumen

Auf einen schwülen Abend und ein laues Match (1:1 zwischen England und Frankreich) folgt eine unruhige Nacht, da ganz Donezk nach dem Auftaktsieg der Ukraine gegen Schweden in der Hauptstadt Kiew beschlossen hatte, nicht zu schlafen und stattdessen zu hupen. Am Vormittag vor der Rückfahrt nach Charkiw dann noch ein schneller Abstecher zum Supermarkt, der im Gegensatz zum hochentwickelten Dienstleistungsland Österreich 24 Stunden geöffnet hat.

Dass hier ein echter Höhepunkt der Reise wartet, erfährt man erst bei der Kassa. Auf die mit einer umständlichen Hebebewegung untermalte Frage nach einer „Bag“ zum Tragen der Einkäufe schnappt sich die Dame eine Bierflasche vom Förderband, reißt sie gekonnt und blitzschnell auf und hält einem das schäumende Ding freudestrahlend entgegen. Ein sympathischer Menschenschlag, diese Ukrainer - trotz gewisser Sprachbarrieren. Außerdem war es schon halb elf.

Harald Hofstetter, ORF.at aus Donezk und Charkiw

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