„Eine Nacht wie im schönsten Traum“
Rassismusdiskussionen, politische Boykotte und schwache Testspiele der Nationalelf haben die Menschen in der Ukraine vor der Euro 2012 kaum in Partylaune gebracht. Seit Montag jedoch liegt das Land im Freudentaumel. Der große „alte“ Mann des ukrainischen Fußballs, Andrej Schewtschenko, hat die Nation mit zwei Toren gegen Schweden wachgeküsst.
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Als im Olympiastadion von Kiew, wo Schewtschenko vor fast 20 Jahren unter Trainerlegende Walerij Lobanowski seine Karriere begonnen hatte, knapp vor 23.00 Uhr Ortszeit der Schlusspfiff ertönte, gab es für Hunderttausende Menschen kein Halten mehr. Von Lwiw (Lemberg) im Westen bis Donezk im Osten, von Kiew bis Charkiw strömten die Massen auf die Straßen und feierten das 2:1 im Auftaktspiel gegen Schweden, das Schewtschenko nach 0:1-Rückstand im Alleingang gedreht hatte - Video dazu in iptv.ORF.at.

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Drei Tage nach dem Eröffnungsspiel hat die EM in der Ukraine wirklich begonnen
„Kritiker zum Schweigen gebracht“
„Ich hätte es mir nicht besser ausmalen können“, rang der 35-jährige Nationalheld nach Worten. „Es ist eine Nacht wie im schönsten Traum.“ Dabei war Teamchef Oleg Blochin vor einigen Wochen noch hart dafür kritisiert worden, dass er den mit Knie- und Rückenproblemen kämpfenden Ex-Milan- und Ex-Chelsea-Star überhaupt in den EM-Kader nahm. Seit 2010 hatte „Schewa“ für die Ukraine nur ein Tor in einem Freundschaftsspiel gegen Bulgarien erzielt. Seine Treffer Nr. 47 und 48 im Nationalteam waren nun jene für die Ewigkeit.
„Das wird eine unglaubliche Nacht für die Ukraine“, kündigte der langjährige Deutschland- und England-Legionär Andrej Woronin an. „Wo ist das Bier?“, fragte Schewtschenko bei der Pressekonferenz. Die Erleichterung und Freude war aber nicht nur den Spielern anzumerken. Auch der in Interviews oft sarkastische und grantige Blochin wirkte regelrecht erlöst. „Ich habe Andrej vor dem Spiel gesagt, dass ich von seinen zwei Toren geträumt habe. Er hat es mir nicht geglaubt.“

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Oleg Blochin und Andrej Schewtschenko im Augenblick des Triumphes
Schewtschenko hat es allen noch einmal gezeigt, wie Torhüter Andrej Piatow betonte. „Er hat seine Kritiker für immer zum Schweigen gebracht.“ Mindestens zehn Jahre jünger fühle er sich nun, scherzte der Matchwinner selbst. „Jetzt haben wir gute Chancen, ins Viertelfinale zu kommen und unsere EM zu krönen“, dachte er auch schon an die nächsten Aufgaben gegen Frankreich und England. „Aber wir dürfen nicht durchdrehen. Alle müssen konzentriert bleiben.“
Ukrainisches „Sommermärchen“
Als sich Schewtschenko, Woronin und Co. im Teambus auf den Weg in ihr EM-Quartier machten, waren die landesweiten Feierlichkeiten schon in vollem Gange. In Donezk waren nach Schlusspfiff Feuerwerke und Hupkonzerte losgegangen. Rund um den Unabhängigkeitsplatz von Kiew legten Tausende Fans mit ihren blau-gelb geschmückten Autos den Verkehr lahm. Auch in Charkiw und Lwiw platzten die Fanzonen aus allen Nähten. Bei nächtlichen Temperaturen um die 25 Grad genossen die Ukrainer ihr „Sommermärchen“ in vollen Zügen.
Nicht nur Schewtschenko sprach von einem „historischen Sieg“. Auch Staatspräsident Viktor Janukowitsch strahlte vor Genugtuung. Er hatte die Ehrentribüne in Kiew mehr oder weniger für sich und seine Gefolgsleute alleine. Fast alle europäischen Spitzenpolitiker hatten ihre EM-Besuche in der Ukraine abgesagt, um damit gegen die Behandlung der in Charkiw inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko zu protestieren. Der Auftaktsieg der Ukrainer drängte nun auch diese Diskussionen vorläufig in den Hintergrund.
Erstes „Finale“ gegen Frankreich
„Mir geht gerade alles Mögliche durch den Kopf. Es ist einfach fantastisch“, fand Schewtschenko die passenden Schlussworte für einen perfekten Tag. „Wir spielen zu Hause und gewinnen gleich das erste Spiel. Ich bin glücklich und danke der großartigen Mannschaft.“ Ab jetzt sei jedes Spiel ein Finale - das erste steigt am Freitag in Donezk gegen die Franzosen. Bis dahin wird sich die Euphorie in der Ukraine noch steigern, auch weil das Sommerwetter weiter mitspielt. Das EM-Fieber ist ausgebrochen - „Schewa“ sei Dank.
Harald Hofstetter, ORF.at aus Donezk
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