Wimpernschläge einer Libelle
Seit 40 Jahren wird in der für die Olympischen Winterspiele 1976 gebauten Kunsteisbahn von Innsbruck-Igls gerodelt und Bob gefahren. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Spitzenathleten, die um WM-Medaillen oder Weltcup-Punkte rittern. Manchmal sind es aber auch blutige Anfänger, die sich in den etwa 1,5 Kilometer langen Eiskanal verirren - so geschehen am Wochenende.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Die zweifelhafte Ehre, Journalisten aus dem östlichen Flachland der Republik einen bleibenden Eindruck von der Sportart Rennrodeln zu verpassen, hatte ein wahrer Könner auf dem „Höllengerät“: Tobias Schiegl holte mit seinem Cousin Markus Schiegl im Doppelsitzer zwei WM-Titel und nahm zwischen 1994 und 2010 an fünf Olympischen Spielen teil. Seit seinem Rücktritt als aktiver Rodler arbeitet er im Trainerstab von ÖRV-Chefcoach Rene Friedl und war auch beim Weltcup-Auftakt in Igls für die entscheidende Beschaffenheit der Rodeln verantwortlich.
Start ohne Bedenkzeit
Wer auf ein entsprechendes Angebot in einem Anflug von Übermut zu schnell Ja sagte und erst danach an der Bahn - beim Beobachten der vorbeischießenden Weltelite - zu denken begann, landete ebenfalls beim sympathischen Tiroler - genauer gesagt unter ihm, denn Schiegl war zwecks immenser Steigerung der Überlebenschancen als Vorder- und damit Steuermann eingeteilt. Zumindest konnte einem vor dem Start das Herz nicht in die Hose rutschen - dafür war der Rennanzug zu eng.

Österreichischer Rodelverband
Anweisung von Meister Prock: „Kopf an die Brust und ruhig liegen bleiben“
„Das ist der von meinem letzten Olympiastart in Salt Lake City“, hatte ÖRV-Sportdirektor Markus Prock beim Anziehen erzählt. Erinnerungen an die Kommentare von ORF-Reporterlegende Sigi Bergmann - an „Pratzeln“, „in tausend Teile zerhackte Sekunden“ und „Wimpernschläge einer Libelle“ schossen durch den Kopf, als sich Schiegl schon abstieß. Man hatte auf eine zumindest zehnminütige Vorbereitungs-, Bedenk- oder sonstige Zeit gehofft, und der Mann fuhr einfach los.
Physikunterricht im Kreisel
Ab diesem Zeitpunkt ging alles sehr schnell. Die 14 Kurven der Bahn waren eine Mischung aus Horror und Vergnügen. Unter dem eng anliegenden Vollvisier war jeder Atemzug zu hören - es waren ein paar mehr als gewöhnlich. Im berüchtigten Kreisel lernte man etwas über die Fliehkräfte. Wie Schiegl beim Steuern gekonnt mit Oberkörper, Armen und Beinen arbeitete, war trotz beträchtlicher Angstzustände beeindruckend zu beobachten. Dann die Fahrt durch das Labyrinth - so muss sich ein Socken in der Waschmaschine fühlen.

Österreichischer Rodelverband
Steuermann Schiegl lachte - hinter ihm regierte die nackte Angst
Dass „wir“ Rodler in Igls vor dem bzw. im Ziel aus einer letzten engen Kurve heraus einen steilen Anstieg hinaufrasen, setzte dem Nervenkitzel noch die Krone auf. Wie Markus Prock angewiesen hatte, war der Kopf eng an der Brust geblieben und hatten sich die Hände in der Rodelschale festgekrallt. „Na, wie war’s?“, fragte der bestens gelaunte Schiegl nach der spektakulären Bremsphase. „Geil“, war darauf die Untertreibung des Tages, als die Panik langsam nachließ.
Mit weichen Knien vom Eis gefedert, ging es samt Rodel auf die Ladefläche eines alten Lastwagens, der den Profi und den Passagier zurück an den Start brachte. Auch die Weltcup-Athleten werden zwischen den Läufen auf diese Weise befördert. Dass sie „Wahnsinnige“ sind, war schon vorher klar gewesen. Mit der großartigen Erfahrung dieses eisigen Adrenalinrausches stieg der Respekt vor ihren Leistungen aber noch einmal um ein Vielfaches. Wo wir mit über 100 km/h die zwei Sekunden auf die Trainingsschnellsten verloren hatten, muss mit Schiegl aber noch abgeklärt werden.
Harald Hofstetter, ORF.at
Link: