Themenüberblick

Carlsen fordert Champion Anand

Weltmeister Viswanathan Anand darf sich warm anziehen. Bei seiner Titelverteidigung von 6. bis 26. Oktober im heimischen Chennai bekommt es der Inder mit dem stärksten Spieler zu tun, der ihm je die WM-Krone abjagen wollte - ja sogar mit dem stärksten Spieler, der je an einem Schachbrett gesessen ist: Magnus Carlsen. Der 22-Jährige gewann nach dramatischem Verlauf das Kandidatenturnier in London.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Der am 30. November 1990 in der südnorwegischen Hafenstadt Tönsberg geborene Carlsen machte erstmals Schlagzeilen, als er mit 13 Jahren zum jüngsten Großmeister der Geschichte avancierte. 2007 versuchte Carlsen einen ersten Anlauf in Richtung WM-Titel, schied aber im Kandidatenturnier, das damals im K.-o.-System ausgetragen wurde, bereits in der ersten Runde aus.

Aufstieg zur Nummer eins

Doch schon 2008 sorgte Carlsen für einen weiteren Paukenschlag: Der damals 17-Jährige übernahm nach einer Reihe herausragender Ergebnisse bei Topturnieren die Spitze der Weltrangliste - vorerst nur inoffiziell, da das Ranking damals nur vierteljährlich veröffentlicht wurde. Anfang 2010 war es dann amtlich: Der Computer wies den nun 19-jährigen Carlsen als die jüngste Nummer eins der Schachwelt aus.

Zu diesem Zeitpunkt war aus dem gefeierten Wunderkind längst ein Profispieler geworden, der unter der Ägide von Ex-Weltmeister Garri Kasparow seine Spielweise akribisch verfeinert hatte. Das brachte ihm unter anderem seinen ersten WM-Titel ein, wenngleich es, wie Kritiker anmerkten, „nur“ jener bei der Blitz-WM 2009 in Moskau war.

Magnus Carlsen gegen Alexei Fedorov in 2004.

Reuters/Anwar Mirza

Magnus Carlsen lehrte schon in jungen Jahren seine Gegner das Fürchten

„Unfairer Modus“

Die Zeit für die „echte“ WM-Krone schien reif. Doch Carlsen verzichtete auf eine Teilnahme am Kandidatenturnier 2011. Er lehnte den Modus ab und zog einen Vergleich mit der Fußball-WM: „Da ist Spanien auch nicht automatisch für das Finale gesetzt. Das System ist unfair und unmodern.“ Somit blieb Titelverteidiger Viswanathan Anand ein erstes WM-Duell mit Carlsen erspart, der Inder bekam den Israeli Boris Gelfand als Gegner vorgesetzt und rang diesen hauchdünn nieder.

Carlsen, mittlerweile auch als Model für eine niederländische Bekleidungsfirma tätig, prolongierte indes seinen Siegeszug und sicherte sich einen weiteren Eintrag in die Geschichtsbücher: Mit 2.872 Punkten erreichte er im Februar 2013 die höchste jemals errechnete Elo-Zahl. Die auf dem Bewertungssystem des aus Ungarn stammenden US-Wissenschaftlers Arpad Elö basierende Weltrangliste hatte bis dahin Kasparow (2.851 im Juli 1999) als Rekordhalter ausgewiesen.

Hochspannung beim Kandidatenturnier

Mittlerweile hatte sich auch Carlsens Meinung zum WM-Modus geändert, und diesmal setzte er sich der Nervenschlacht des Kandidatenturniers aus. Carlsen übernahm nach neun von 14 Runden die alleinige Führung, ehe ihn in Runde zwölf eine unerwartete Niederlage mit Weiß gegen Wassili Iwantschuk kurzfristig zurückwarf.

Ein Sieg mit Schwarz gegen den Aserbaidschaner Teimur Radschabow am 13. Spieltag bescherte Carlsen wieder die Tabellenführung. Am Schlusstag verlor der Norweger allerdings mit Weiß völlig überraschend gegen Peter Swidler. Nun hätte Verfolger Wladimir Kramnik bereits ein Remis gegen Iwantschuk zum Turniersieg gereicht - doch der mit den weißen Steinen spielende Ukrainer zwang den Russen in die Knie und bescherte Carlsen doch noch den ersehnten Turniersieg.

Auf den Spuren von Bobby Fischer

Damit steht fest, dass Carlsen von 6. bis 26. Oktober in Chennai den regierenden Champion Anand herausfordern wird - ein Duell, das von vielen mit dem legendären WM-Match von 1972 zwischen dem sowjetischen Weltmeister Boris Spasski und seinem jungen US-Herausforderer Robert „Bobby“ Fischer verglichen wird.

Einige Beobachter waren noch einen Schritt weiter gegangen und hatten auch in der Vorschau auf das Kandidatenturnier Parallelen zwischen Carlsen und Fischer entdecken wollen. Fischer hatte 1962 auf Curacao nach einem vierten Rang seine WM-Hoffnungen begraben müssen und seine vorwiegend sowjetischen Gegner der Spielabsprache bezichtigt.

Kein zweites Curacao

Tatsächlich waren damals auffällig viele Duelle zwischen den UdSSR-Großmeistern unspektakuläre und kurze Remispartien, während man gegen Fischer mit voller Kraft agierte. Nun sah sich Carlsen mit den Russen Wladimir Kramnik, Alexander Grischuk, Swidler sowie mit dem Armenier Lewon Aronian, Radschabow, Iwantschuk und dem gebürtigen Weißrussen Gelfand erneut einer östlichen Übermacht ausgesetzt - von „Bruderhilfe“ war allerdings weit und breit nichts zu bemerken.

Fischer wie Carlsen arrangierten sich nach längerer Nachdenkpause mit dem angeblich ungerechten WM-Modus - der US-Exzentriker bestieg zehn Jahre nach seiner Aussage, „nie wieder ein Kandidatenturnier zu bestreiten“, den Schach-Thron. Nun ist es am stets seriös wirkenden Carlsen, mit einem Triumph gegen Anand den Gipfel zu erklimmen.

Christoph Lüftl, ORF.at

Links: