Rennen als „russisches Roulette“
Die Reifenexplosionen beim Grand Prix von Großbritannien haben die Formel-1-Stars um ihr Leben bangen lassen, Fahrer und Teams sind zutiefst verunsichert. Vor diesem Hintergrund hat sich nun sogar eine Debatte über einen möglichen Boykott des Rennens am Sonntag auf dem Nürburgring entfacht.
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„Das ist einfach nicht akzeptabel. Sie machen erst etwas, wenn jemand verletzt wird“, schimpfte Lewis Hamilton. „Darüber werden wir ganz sicher diskutieren. Für unsere Sicherheit könnten wir das tun“, stellte Felipe Massa einen Streik in Aussicht. Mark Webber beschrieb das beängstigende Geschehen beim britischen Grand Prix als „russisches Roulette“. „Formel Risiko“, urteilte die italienische Zeitung „La Repubblica“. „Formel 1 in Fetzen“, schrieb „Le Figaro“.

Reuters/Nigel Roddis
Die Reifen stehen erneut im Mittelpunkt - nun aber als Sicherheitsrisiko
„Wir wollen kein neues Indianapolis“
Die eskalierende Situation erinnert an den Indianapolis-Skandal von 2005, als die Michelin-Reifen den Belastungen auf der US-Strecke nicht standhielten und fast alle Teams ihre Autos nicht starten ließen. Nur die drei von Bridgestone ausgerüsteten Rennställe fuhren unter wütenden Beschimpfungen der Fans den Grand Prix. „Wir wollen kein neues Indianapolis“, sagte McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh.
Lange war die Debatte um die empfindlichen Pirelli-Pneus in dieser Saison ein Machtspiel zwischen den Teams, die besser oder schlechter mit den Gummimischungen zurechtkommen. Jetzt aber geht es um die Gesundheit und das Leben der Fahrer. „Natürlich war das riskant“, sagte Silverstone-Sieger Nico Rosberg. Sein zweiter Saisonerfolg geriet inmitten des hochbrisanten Reifenthemas fast zum Nebenaspekt. „Die müssen das analysieren, denn so etwas ist nicht gut für die Formel 1“, fügte Rosberg hinzu.

GEPA/XPB Images/Moy
Ecclestone und Hembery (re.) müssen rasch eine Lösung finden
Verunsicherung bei Pirelli
Doch was kann Pirelli bis zum Freitag-Training auf dem Nürburgring wirklich verändern? „Wir haben etwas gesehen, das wir nicht verstehen“, gab Pirelli-Motorsportdirektor Paul Hembery zu und beteuerte: „Wir nehmen das Thema sehr ernst.“
Das italienische Unternehmen ist aber keineswegs der Alleinschuldige an dem Desaster. Der neue Reifen mit höherem Verschleiß wurde ausdrücklich auf Wunsch der Formel 1 zur Verbesserung der Show eingeführt. Als sich zu Saisonbeginn die Pannen und Klagen häuften, bot Pirelli Änderungen an. Doch Lotus, Ferrari und Force India, deren Autos gut mit den Reifen zurechtkommen, blockierten eine Reform.
Ferrari und Co. lenken ein
Die drei Rennställe wollen ihren Widerstand gegen Veränderungen bei den Pneus nun aber aufgeben. „Wenn es zu einer Frage der Sicherheit wird, dann werden wir nicht das Wohlergehen der Leute wegen eines technischen Details riskieren“, sagte Force-India-Vizeteamchef Bob Fernley dem Fachmagazin „Autosport“. Ähnlich äußerten sich die Teamchefs von Ferrari und Lotus.
„Wir müssen das Problem lösen, weil es für uns alle wichtig ist“, sagte Ferrari-Teamchef Stefano Domenicali. „Sicherheit ist unsere oberste Sorge“, ergänzte sein Lotus-Kollege Eric Boullier. Für Änderungen muss Reifenhersteller Pirelli die Zustimmung aller Teams haben.
„Müssten uns alle fremdschämen“
Vor der nun möglichen Einigung hatte es aber viel Streit gegeben. Als Pirelli einen Privattest mit Mercedes fuhr, um Lehren aus den Problemen mit den Gummiwalzen zu ziehen, reagierten Red Bull und Ferrari mit einer Anzeige beim Automobil-Weltverband (FIA). Der Verband sprach Verwarnungen wegen des Verstoßes gegen das Testverbot aus und schloss Mercedes vom Nachwuchsfahrertest Mitte Juli aus. „Wir müssten uns alle fremdschämen. Das hat der gesamten Formel 1 geschadet“, sagte Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff nun zum Streit der vergangenen Wochen.
Die Krise ist also wieder mal hausgemacht - und jetzt ist es bitterernst. „Ich hatte richtig Angst“, gestand sogar der eher hartgesottene Fernando Alonso. Via Twitter veröffentlichte der WM-Zweite eine TV-Aufnahme von einem fliegenden Reifenteil, das sich bei 288 Stundenkilometern direkt vor ihm vom McLaren des Mexikaners Sergio Perez gelöst hatte. „Ich hatte Glück, es hat mich um einen Zentimeter verpasst“, sagte der Ferrari-Star. „Wenn dir das ins Gesicht oder auf den Sturzhelm fällt, reißt es dir das Genick ab“, warnte Niki Lauda. „Wir riskieren unser Leben, und wenn das wieder passiert, wollen wir nicht, dass jemand stirbt“, sagte Perez.
FIA sucht nach Lösung
Unter enormem Druck trifft sich nun die Sportarbeitsgruppe der Formel 1 am Mittwoch auf der Suche nach einem Ausweg zu einer Krisensitzung. „Ich würde vorschlagen, wir kehren zu den alten Reifen zurück, die diese Schäden nicht hatten. Das Problem ist, dass bestimmten Teams dann vorgeworfen wird, sie wären auf einen Vorteil aus“, sagte Red-Bull-Teamchef Christian Horner.
„Wir müssen alle zusammenhalten. Jetzt geht es nicht mehr um irgendeinen Vorteil, sondern nur noch um die Sicherheit“, betonte Wolff und erklärte: „Pirelli hat Lösungen in der Schublade.“
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