Themenüberblick

Wenn es regnet in Recife

Niemals soll man im Nordosten Brasiliens im Juni ahnungslos und noch dazu laut aussprechen, dass es für die momentan herrschende Regenzeit eigentlich relativ wenig regne. Tut man es doch, wird man dafür am nächsten Tag hart bestraft - so geschah es der ORF.at-Einmannabordnung gemeinsam mit den ORF-TV-Kollegen Michael Bacher und Peter Homola bei der WM 2014 in Recife.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Beginnt ein Wochentag, in diesem Fall war es der Donnerstag, in der Millionenstadt am Atlantik mit sintflutartigen Regenfällen, ist das kein gutes Zeichen. Wird für den gesamten Tag keine Wetterbesserung vorhergesagt, hat man ein echtes Problem. Und denkt man dann, dass die Abfahrt vom Hotel im Stadtzentrum zum WM-Stadion Pernambuco rund 20 Kilometer entfernt mit viereinhalb Stunden vor Anpfiff rechtzeitig sein müsste, ist man bereits verloren. Man weiß es nur noch nicht, was die Sache am Anfang erträglicher, zum Ende hin dafür schlimmer macht.

„Es könnte ein bisschen chaotisch werden“

Buchstäblich einmal rund um den Block in 45 Minuten - um 8.00 Uhr nicht unbedingt ein verheißungsvoller Start in den Morgen, aber das kann schon vorkommen: Das denkt zumindest der südosttangentengeprüfte Ostösterreicher und wundert sich leicht amüsiert über das auf den Straßen immer höher steigende Wasser. „Recife hat ein Problem mit den Regenwasserabflüssen“, bringt es der ausgesprochen bemühte Fahrer Anderson, ebenfalls noch entspannt, auf den Punkt. Schließlich waren alle schon in der Früh von Medienbetreuern gewarnt worden, dass es im Vorfeld des Spiels Deutschland gegen die USA bei diesem Wetter „ein bisschen chaotisch“ werden könnte.

Auto im Regen

APA/AP/Petr David Josek

Autofahren war an diesem Tag in Recife ein Fall für Masochisten

Anpfiff ist ohnehin erst um 13.00 Uhr Ortszeit, alles kein Problem. Als Anderson von seinem Tagesanbruch berichtet - dem Bedauernswerten war beim Öffnen der Vordertür gleich ein mittelgroßer Wasserfall aus dem Wageninneren entgegengekommen -, ist die Stimmung noch locker. Er konnte seinen Schwager dazu überreden, ihm das Auto für diesen Tag zu leihen - übrigens ein, was sein Vehikel betrifft, eher pedantischer Zeitgenosse. Das sollte später noch Auswirkungen haben, vorerst aber macht die Arbeitsreisenden auch eine Fahrzeit von zwei Stunden für fünf Kilometer nicht nervös.

100 Meter Freistil gegen Busse und Lastwagen

Interessiert fotografiert man Mopeds, Autos und Busse, die in den Bugwellen der bereits völlig überfluteten Straßen dahinrollen. Auf der Hauptstraße aus Recife hinaus in Richtung Flughafen und Stadion ist dann aber schnell Schluss mit lustig. Immer höher steigt das Wasser, immer niedriger ist das Fortbewegungstempo. Als sich vor Andersons mittlerweile schon schreckgeweiteten Augen - es ist nie gut, wenn ein Einheimischer betont, so etwas noch nie erlebt zu haben - ein etwa 100 Meter langes Straßenstück mit fast schon olympischer Beckentiefe auftut, gibt es nur noch zwei Möglichkeiten.

Entweder man biegt rechts in eine Sackgasse ein und wartet mit Hunderten anderen Gestrandeten auf das Ende aller Tage. Oder man nimmt das Angebot der aus allen Richtungen herbeigeeilten Jugendlichen an, die den Verzweifelten für ein kleines Trinkgeld aus der Patsche helfen. Drei Retter in Surfshorts und ohne T-Shirts stellen sich hinter Andersons Auto, um es durch die hüfthohen Wassermassen zu schieben. Es geht langsam voran, in etwa zweieinhalb Zentimetern Entfernung rauscht ein riesiger Autotransporter vorbei, gefolgt von einem Linienbus in vollem Tempo.

Die Wellen schlagen gegen das Auto - ein eher unwirkliches Geräusch. Als man kurz stoppen muss, weil der Rettungswagen davor angehalten hat, findet das schmutzige Nass schließlich seinen Weg ins Wageninnere. „Okay, es kommt“, lautet der knappe Kommentar an die Mitreisenden, dann gilt es, Laptops und anderes technisches Equipment in sicherer Höhe zu verstauen. Nach der Durchquerung schwimmen die Fußmatten, die Servolenkung fällt aus, und Anderson verliert erstmals an diesem Tag die Contenance. Trotz gemeinsamen Ausschaufelns des eingedrungenen Wassers kann von Trockenlegung keine Rede sein.

Carlos und Familie als Retter in der Not

Außerdem „ruckelt es“, wie man so schön sagt, gewaltig, wenn Anderson beherzt Gas gibt. An dieser Stelle kommt ins Spiel, was den überwiegenden Teil der WM-Reisenden seit drei Wochen durch Brasilien begleitet: Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Carlos und Familie haben fertiggetankt, bieten sich als Mitfahrgelegenheit an und bestehen darauf, sich zu dritt auf den Vordersitzen zusammenzudrängen, um den drei Schiffbrüchigen aus „Austria“ Platz zu machen. Zu diesem Zeitpunkt ist man schon drei Stunden unterwegs, eine weitere Staustunde später trifft der Tross vor der Arena Pernambuco ein.

Familie im Auto

ORF.at/Harald Hofstetter

Dank der hilfsbereiten Brasilianer kam die ORF-Abordnung doch noch ans Ziel

Das Spiel selbst hat im Vergleich zur Anreise herzlich wenig zu bieten. Thomas Müller und sein 1:0 gegen Jürgen Klinsmann und Andreas Herzog sind relativ schnell abgehandelt. Danach wird es wieder interessant, denn die Rückfahrt ins Hotel steht an. Gut, so schlimm wie am Vormittag kann es unmöglich werden, denken sich alle und setzen sich zuversichtlich auf die wieder getrockneten Plätze in Andersons vom Schwager geliehenen Wagen, der nach einer „kleineren“ Reparatur wieder rennt. Ob er dem auf sein Auto sehr stolzen Angeheirateten das alles erzählen werde? „Ich bin doch nicht völlig verrückt.“

Eines vorweg: Es kommt fast so schlimm. Auf der Hauptstraße spielen sich dieselben unglaublichen Szenen ab - nur in die andere Richtung. Die Einzigen, die bei diesem Spektakel mit allen denkbaren Fahrzeugen trocken bleiben, sind die interessiert zusehenden Polizisten. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt: Jedwedes Eingreifen würde das Chaos nur schlimmer machen. Nach mehrmaligen Routenwechseln über überflutete Schleichwege vorbei an der hoffnungslos verstopften Hauptverkehrsader trifft man wieder beim Hotel ein. Auch die schönste Reise hat einmal ein Ende. Erst 19.30 Uhr? Das ging schnell. Schließlich wurde die Zeit vom Vormittag mit 3:30 Stunden pulverisiert.

Harald Hofstetter, ORF.at

Link: