„Fünf bis acht Sekunden totale Euphorie“
Die Fußball-EM nähert sich mit großen Schritten. Zehntausende Österreicher werden das ÖFB-Team nach Frankreich begleiten, viele von ihnen die vollen zwei Wochen der Vorrunde. Ihr zeitlicher und finanzieller Aufwand ist beträchtlich, steht im Vergleich zum Einsatz von Thomas Berger aber in einer fast vernünftigen Relation. Seit 25 Jahren ist der Wiener Anhänger von Crystal Palace, ein „Hardcorefan“ im wahrsten Sinne des Wortes.
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13 Spiele seines Vereins besuchte Berger alleine in dieser Saison schon - sowohl im heimischen Selhurst Park im Süden Londons als auch auswärts. Auch zum FA-Cup-Halbfinale gegen Watford am Sonntag im legendären Wembley-Stadion wird der 46-Jährige selbstverständlich anreisen. Sollte sich Crystal Palace im Duell mit dem Club von ÖFB-Legionär Sebastian Prödl durchsetzen, wäre das Finale am 21. Mai, wieder in Londons Fußballkathedrale, der Höhepunkt - für die noch titellosen „Eagles“ und einen ihrer treuesten Fans.
„Hätte 20-mal in die Karibik fliegen können“
Wie immer wird Berger am Freitag von Wien nach Gatwick fliegen. „Das Hotel ist vom Flughafen 20 Minuten entfernt“, berichtet er im Rahmen eines Besuchs bei ORF.at über den typischen Ablauf seiner London-Reisen. „Ein Mittelklassehotel, drei Minuten vom Stadion entfernt. Am Samstag ist im Normalfall das Spiel angesetzt, diesmal am Sonntag. Am nächsten Tag zu Mittag geht’s retour nach Wien.“ Ins Zentrum von London fährt Berger schon lange nicht mehr. „Mit den Sehenswürdigkeiten bin ich seit Jahren durch, schon zehnmal.“

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Wien ist seine Heimatstadt - zu Hause ist Berger aber auch im Süden Londons
Zwischen 300 und 500 Euro kostet den Cateringkoch ein Wochenendtrip - abhängig von Flugpreis, Spielort und Gegner. „Und das ist es mir absolut wert“, stellt Berger klar. „Palace ist für mich eine Herzensangelegenheit. Natürlich hätte ich schon 20-mal in die Karibik fliegen können um das Geld. Und eine Leberkäsesemmel ist mir schon lieber als ein geschmacksneutrales Sandwichdreieck. Aber ich liebe England und die Leute. Und natürlich Palace.“
„Es war kalt und hat geregnet“
Alles begann im Dezember 1991 mit seiner ersten London-Reise: Der damals in Sachen englischer Fußball noch unbefleckte Berger wurde von einem echten Kenner der Materie eingeführt. Bundesheerkollege Franz Resch, langjähriger Profi und damals Rapid-Spieler, besuchte mit ihm das FA-Cup-Spiel Crystal Palace gegen Birmingham. „Es war kalt und hat geregnet, es waren wenige Zuschauer“, erinnert sich Berger an die Premiere im Selhurst Park. „Palace hat gewonnen, aber viel hat nicht darauf hingedeutet, dass ich Fan werde. Hängen geblieben ist trotzdem etwas.“

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Der Selhurst Park wurde 1924 erbaut und nur 1995 mit einer Tribüne erweitert
Wenige Tage später, noch beim selben London-Aufenthalt, kaufte er sich dann Karten für das Ligaspiel gegen Chelsea - und schon war es passiert. „Totaler Zufall, dass wir gerade zu Palace gegangen sind, aber so hat es begonnen“, blickt Berger kopfschüttelnd zurück - und man merkt deutlich, wie dankbar er dem Schicksal dafür ist. Als 21-Jähriger mit beschränkten finanziellen Möglichkeiten blieben Matchbesuche damals noch die Ausnahme. „Internet gab es auch keines, also habe ich mir alle Informationen aus Teletext und englischen Magazinen besorgt - die habe ich in der Trafik bestellt.“
Den Inselspirit inhaliert
1996 wurde Berger dann Clubmitglied. „Es ist wie eine Liebe. Sie fängt langsam an und wächst“, beschreibt er die wichtigsten Stationen mit leuchtenden Augen. Wenn er heute im Ticketzentrum anruft, kennen ihn alle. Auch Freikarten ließ ihm der Club schon das eine oder andere Mal zukommen. Berger nimmt auch immer wieder Freunde und Bekannte aus Österreich zu Palace-Spielen mit. „Es war noch keiner dabei, der das Stadion nicht mit leuchtenden Augen verlassen hat.“ Kein Wunder, wurden die Palace-Fans doch erst im Vorjahr zu den besten Fans der Premier League gewählt.

Thomas Berger
Die schottische Palace-Legende „Dougie“ Freedman sah Berger oft spielen
„Das Stadion ist mit 25.000 Plätzen klein, aber unglaublich laut“, schwärmt Berger über die Atmosphäre bei Heimspielen. Überhaupt scheint er den englischen Spirit inhaliert zu haben. „Ich habe in 25 Jahren nicht ein einziges Mal über einen Spieler geschimpft, wie es in Österreich zur Fankultur gehört“, betont Berger. Mit seinem markanten Glatzkopf erinnert er äußerlich an einen britischen Old-School-Hooligan. In Wahrheit ist er zurückhaltend, fast schüchtern. „Das ist mein Verein. Ich vergleiche es mit einer Ehe. Es gibt Höhen und Tiefen, aber man muss immer zusammenhalten.“
„Kein Ende absehbar“
Für Berger ist nach einem Vierteljahrhundert „Ehe“ mit Crystal Palace klar: „Es ist kein Ende absehbar.“ Seine Lebensgefährtin Gabi, die seit zehn Jahren mitfiebert und zumindest einmal pro Jahr mit nach London fliegt, würde den Palace-„Maniac“ nie vor die Wahl stellen, sagt Berger ohne zu zögern. „Auch wenn es in den letzten acht Jahren immer schlimmer geworden ist.“ 2008 wurde die Liebe zu den „Eagles“ nämlich noch mehr intensiviert, als der Österreicher Johannes „Johnny“ Ertl von der Wiener Austria zu Palace wechselte.
Ertl wurde in zwei Saisonen trotz einiger Anlaufschwierigkeiten zum Publikumsliebling und zur Identifikationsfigur. Natürlich auch für Berger: „Er hat die Umgebung, das Stadion und den Verein geliebt. Deshalb haben die Leute auch ihn geliebt.“ Aus anfänglichen Spieler-Fan-Kontakten zwischen Berger und Ertl wurde eine echte Freundschaft. „Als ‚Johnny‘ dann 2010 aufgrund der finanziellen Probleme des Vereins zu Sheffield United gegangen ist, war ich den Tränen nahe“, erzählt er. Zumindest konnte sich Berger damit trösten, dass der insolvente Club davor trotz zehn Punkten Strafabzugs den Championship-Klassenerhalt (zweite Liga) schaffte.
„Ein Real- oder Bayern-Fan kann das nicht spüren“
Auch dank Ertl setzte sich Palace in hochdramatischen Play-off-Duellen mit Brighton und Sheffield Wednesday durch. Dass Berger im Palace-Fansektor stand, bedarf keiner Erwähnung mehr, obwohl gerade die Erinnerungen an diese Zeit für ihn die besten sind. „Das waren Schlüsselmomente für den Verein. Damals entstand eine unglaubliche Euphorie.“ Drei lokale Geschäftsleute übernahmen Palace und führten das Team 2013 zurück in die Premier League. Das Play-off-Finale im Wembley-Stadion gegen Watford (1:0 nach Verlängerung) bezeichnet Berger ebenfalls als Highlight.

Thomas Berger
2008 bis 2010 zitterte Berger mit Legionär „Johnny“ Ertl (ganz rechts) und Co. um den Klassenerhalt und die Zukunft von Crystal Palace
Vergessen waren da die frühen Jahre in den 90ern, als er mit Palace unzählige Male in weniger glamouröse Orte wie Scunthorpe und Peterborough reiste - und mit Niederlagen im Gepäck zurückkehrte. „Als Palace-Fan weiß man, dass jeder Sieg etwas Besonderes ist. Ein Real- oder Bayern-Fan kann das nicht spüren, wie sich ein wichtiger Sieg, ein wichtiges Tor nach fünf Niederlagen anfühlt“, sagt Berger, der auch den legendären 3:1-Auswärtssieg von Palace im Liverpool-Abschiedsspiel von Steven Gerrard an der Anfield Road miterlebte. „Das macht mich stolz. Das sind unvergessliche Momente.“
Alkoholverbot und Ruhe im Auswärtsbus
Auswärtsspiele üben auf Berger ohnehin einen eigenen Reiz aus. Die dichte Atmosphäre im Auswärtsfanblock, das Ansingen gegen das ganze Stadion der Gastgebermannschaft. Angereist wird mit Bussen, direkt vom Selhurst Park zum gegnerischen Stadion. Aussteigen, hinein in den Block, nach dem Spiel direkt zurück in den Bus und Rückfahrt nach London, manchmal drei bis fünf Stunden. Und wer glaubt, dass in den Bussen wild gefeiert wird, irrt gewaltig. „Es herrscht striktes Alkoholverbot, eigentlich ist es sehr ruhig, mit dem Bus reisen die eher Gesetzteren an“, berichtet Berger.
Grölen, Bier trinken, eskalieren sind nicht die Dinge, die ihn am englischen Fußball und seiner Fankultur faszinieren. „Es ist diese Anspannung und Nervosität vor jedem Spiel. Das können nur Leute verstehen, die wirklich einen Verein haben. Die Freude, diese fünf bis acht Sekunden totale Euphorie, wenn wir ein Tor schießen. Man umarmt wildfremde Leute“, beschreibt Berger die Schlüsselreize, die ihn auf die Insel ziehen. „Wenn man das Glück hat, bei wichtigen Spielen dabei zu sein, vielleicht zu gewinnen - unvergesslich.“
Der erste Titel am Horizont
Am Sonntag ist es wieder so weit - gegen Watford mit Sebastian Prödl geht es um das FA-Cup-Finale. „Den habe ich im Flugzeug getroffen“, erzählt Berger von einer nicht lange zurückliegenden Begegnung mit Prödl nach einem Spiel zwischen Palace und Watford. „Ein netter Kerl, ich wünsche ihm viel Erfolg, aber nicht gegen Palace.“ Kein Wunder, noch nie schaffte es Palace, einen Titel zu holen. 1990 verlor man das Cupfinale gegen ManUnited, das im zweiten Halbfinale auf Everton trifft. „Wir können heuer wirklich den Cup gewinnen“, sagt Berger ungläubig, mehr zu sich selbst. Die Flüge für das Finale würde er im Falle eines Sieges gleich im Hotel in London buchen.
Harald Hofstetter, ORF.at
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