Titelfavorit mit Fragezeichen
Nach dem EM-Titel 1984 und dem WM-Triumph 1998 will das französische Fußballnationalteam heuer im Sommer zum dritten Mal vor eigenem Publikum ein großes Turnier gewinnen. Die Spielstärke der Mannschaft, vor allem der Variantenreichtum in der Offensive, lässt die Fans auf eine erfolgreiche Vorstellung hoffen. Offen bleibt, wie sich die latente Terrorgefahr und die Benzema-Affäre auswirken.
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Was die politisch-sozialen Umstände betrifft, ist die Großwetterlage in Frankreich diesmal eine andere als bei den vorangegangenen Events. Vor 18 Jahren bestand noch die Hoffnung, dass der WM-Erfolg der multikulturellen Truppe um Zinedine Zidane entscheidend dabei helfen könnte, das pluralistische Land näher zusammenzubringen. Doch mittlerweile ist dieser viel beschworene integrative Impuls längst verpufft. Das zeigten nicht zuletzt die Terroranschläge im Vorjahr in Paris in erschreckender Deutlichkeit.

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Die Anschläge von November werfen einen Schatten auf die Heim-EM
Im Gefolge der Angriffe am 13. November, bei denen Attentäter mit Sprengstoffgürteln auch ins Stade de France gelangen wollten, wo Frankreich an jenem Abend gegen Deutschland testete, mussten sich die Teamkicker an die ständige Bewachung durch Anti-Terror-Brigaden gewöhnen. Das ganze Land erlitt einen Schock, der momentan vielleicht überlagert, aber nicht verheilt ist. Trainer Didier Deschamps, 1998 Kapitän der weltmeisterlichen Auswahl, will das jedoch nicht als Ausrede gelten lassen. „Wir dürfen nie vergessen, aber wir müssen nach vorne schauen“, sagte der 47-Jährige.
Steckbrief Frankreich
- Teamchef: Didier Deschamps (seit 2012)
- Bekannteste Spieler: Paul Pogba, Patrice Evra (beide Juventus Turin), Antoine Griezmann (Atletico Madrid), Olivier Giroud (Arsenal), Blaise Matuidi (Paris Saint-Germain), Kingsley Coman (Bayern München)
- FIFA-Weltrangliste: 17.
- EM-Teilnahmen: 9
- WM-Teilnahmen: 14
- Größte Erfolge: Weltmeister 1998, Europameister 1984 und 2000, Vizeweltmeister 2006
„Grande Nation“ kommt nicht zur Ruhe
Der Schatten des Terrors ist beileibe nicht sein einziges Problem. Auch der tiefe Fall von Ex-UEFA-Präsident Michel Platini, der als Architekt des neuen EM-Modus mit 24 Teilnehmern gilt, warf ein negatives Licht auf den französischen Fußball. Das bestimmende Thema war allerdings die Debatte über Karim Benzema, der im Dezember 2015 wegen seiner angeblichen Verwicklung in den bizarren Krimi um Mathieu Valbuena vorläufig aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen wurde.
Der Real-Madrid-Star soll geholfen haben, seinen Mitspieler mit einem Sexvideo zu erpressen. Obwohl juristisch gegen den aktuell produktivsten Stürmer der „Equipe Tricolore“ nach wie vor nichts vorliegt, zeigten ihm Deschamps und der französische Verband vor Kurzem endgültig die Rote Karte. Seine EM-Nominierung würde die Harmonie gefährden und wäre für die Vorbildwirkung der Mannschaft nachteilig, konnte man dem offiziellen Statement entnehmen. Wie sich seine Ausbootung intern auswirken wird, bleibt abzuwarten.
Neun Siege in den letzten zehn Spielen
Deschamps geringste Sorge dürfte die Leistungsstärke seiner Truppe sein. Die Franzosen gewannen neun der vergangenen zehn Vorbereitungsspiele und zeigten dabei über weite Strecken ballsicheren und vielseitigen Offensivfußball. Bei der Generalprobe setzte sich der EM-Gastgeber am Samstag mit 3:0 gegen Schottland durch. Die einzige Niederlage kassierte man vier Tage nach den Paris-Anschlägen gegen England (0:2) im Wembley-Stadion, als die Mannschaft offensichtlich nicht auf der Höhe war.

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Frankreich-Teamchef Deschamps kann offensiv aus dem Vollen schöpfen
Zuletzt setzte sich die „Equipe Tricolore“ am Montag dank einem Last-Minute-Tor von Freistoßspezialist Dimitri Payet mit 3:2 gegen Kamerun durch. Die EM-Generalprobe vor dem Eröffnungsspiel gegen Rumänien am 10. Juni (21.00 Uhr, live in ORF eins) steigt am Samstag gegen Schottland in Metz. Die weiteren Gruppengegner in der Gruppe A sind Albanien (15. Juni) und die Schweiz (19. Juni).
Erstklassig besetzte Offensive
Besonders im Sturm sind die Franzosen auch ohne Benzema hervorragend bestückt. In den zwei jüngsten Testspielsiegen gegen die Niederlande (3:2) und Russland (4:2) schossen „Les Bleus“ kombiniert sieben Tore, für die sechs verschiedene Akteure verantwortlich zeichneten. Neuer Leader im Angriff ist Antoine Griezmann (Atletico Madrid), der seit der WM 2014 einen steilen Aufstieg hingelegt hat und zu einem der Topstars der EM avancieren könnte.
Mit Kapitän Blaise Matuidi (Paris Saint-Germain), Paul Pogba, Patrice Evra (beide Juventus Turin) sowie Torhüter Hugo Lloris (Tottenham) bildet er das Korsett der Mannschaft. Hinzu kommen bewährte Kräfte wie Bacary Sagna (Manchester City) und Olivier Giroud (Arsenal), Toptalente wie Anthony Martial (Manchester United) und Kingsley Coman (Bayern München) sowie die Senkrechtstarter Dimitri Payet (West Ham) und N’Golo Kante (Leicester City). Wenn es Deschamps gelingt, daraus die richtige Mischung zu finden, könnte es mit dem Titelhattrick klappen.
EM-Kader Frankreich
Tor: Hugo Lloris (Tottenham Hotspur/ENG), Steve Mandanda (Olympique Marseille), Benoit Costil (Stade Rennes)
Abwehr: Laurent Koscielny (Arsenal/ENG), Eliaquim Mangala (Manchester City/ENG), Patrice Evra (Juventus Turin/ITA), Bacary Sagna (Manchester City/ENG), Lucas Digne (AS Roma/ITA), Christophe Jallet (Olympique Lyon), Samuel Umtiti (Olympique Lyon), Adil Rami (FC Sevilla/ESP)
Mittelfeld: Paul Pogba (Juventus Turin/ITA), Blaise Matuidi (Paris St. Germain), N’Golo Kante (Leicester City/ENG), Yohan Cabaye (Crystal Palace/ENG), Morgan Schneiderlin (Manchester United/ENG), Moussa Sissoko (Newcastle United/ENG)
Angriff: Antoine Griezmann (Atletico Madrid/ESP), Dimitri Payet (West Ham United/ENG), Anthony Martial (Manchester United/ENG), Kingsley Coman (Bayern München/GER), Olivier Giroud (Arsenal/ENG), Andre-Pierre Gignac (Tigres de Monterrey/MEX)
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