Grande Dame hat die Motivation verloren
Unglaublich, aber wahr: Jeannie Longo-Ciprelli, die Grande Dame des internationalen Radsports, kokettiert erstmals und offen mit ihrem Rücktritt. Dabei hatte sie erst im Oktober bei den Weltmeisterschaften in Geelong eine weitere WM-Medaille im Zeitfahren als Fünfte nur denkbar knapp verpasst und den jüngeren Gegnerinnen damit bewiesen, dass sie längst nicht zum alten Eisen gehört. Wiewohl sie am 31. Oktober ihren 52. Geburtstag feierte.
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Dazu im Vergleich: Die englische Zeitfahr-Weltmeisterin Emma Pooley ist gerade 28 Jahre alt. Ein paar mehr hat Longo-Ciprelli also auf dem Buckel, aber sie radelte und radelte und ließ bis zuletzt noch einen Großteil der Weltspitze hinter sich. Von WM-Bronze trennten „La Longo“, die bei den Olympischen Spielen in Peking vor drei Jahren ihre bisher letzte Medaille gewonnen hatte, in Australien 28 Sekunden. Auf Pooley verlor die Französin 44 Sekunden und damit nur knapp zwei Sekunden pro Jahr mehr auf dem Lebenskonto. Longo-Ciprelli verblüffte wieder.

Reuters/Daniel Munoz
WM-Fünfte im Zeitfahren 2010
Damit könnte nun endgültig Schluss sein. Ihr fehle die Motivation, sagte Longo-Ciprelli der französischen Tageszeitung „Le Parisien“ (Mittwoch-Ausgabe). Sie sei geistig müde und nicht sicher, ob sie 2011 noch Rennen bestreiten werde. Der Gedanke an ihren Abschied bereite ihr keine Angst mehr, zumindest weniger als noch vor einem Jahr. „Nun sehe ich andere Horizonte“, bekräftigte Longo-Ciprelli, „und kann auch Dinge akzeptieren, die für mich bis vor kurzem unvorstellbar waren, wie zum Beispiel ein Tag ohne Training.“
„Daran denke ich nicht mehr“
Und so seien die Olympischen Spiele 2012 in London absolut kein Thema. „Daran denke ich nicht mehr, überhaupt nicht“, untermauerte sie ihre ernste Absicht. „Im Moment suche ich nach irgendeiner Motivation, um in dieser Saison überhaupt noch Rennen zu fahren. Zwar beginnt die Saison erst in wenigen Monaten, aber wenige Monate sind in meinem Alter eine sehr lange Zeit“, so die Veteranin, die sich auf ihren Abschied aber nicht endgültig festlegen wollte. Und doch ist sicher: Sie wird dem Radsport sehr bald und für immer den Rücken kehren.
Ihre offenen Worte, die Gedanken an den Rücktritt, kamen einigermaßen überraschend. Denn bisher hatte Longo-Ciprelli, seit 20 Jahren mit ihrem Trainer Patrice Ciprelli verheiratet, das Wort Karriereende vermieden und tatsächlich noch nicht in den Mund genommen. Schon im Sommer 2008 in Peking wusste niemand genau, ob sie es ernst meinte oder scherzte, als sie damals verkündete: „Vielleicht sehen wir uns in London.“ Diese Hoffnungen haben sich nun zerschlagen.
Sportlerin des Jahrhunderts
Die Titelsammlung der eigenwilligen Französin, die unter ihrem Namen Sportlernahrung vertreibt, mit ihrem Verband oft über Kreuz lag und in der Saison 2007 sogar für den österreichischen Damen-Rennstall Uniqa Graz unterschrieben hatte, ist auch so einmalig: Longo-Ciprelli, die ihren langen internationalen Marsch von Erfolg zu Erfolg bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984 startete, holte in nun 27 Jahren 13 WM-Titel und zwei Olympia-Bronzemedaillen.
Einmal durfte sich die frühere Studentenmeisterin im alpinen Skilauf über Olympiagold auf der Straße in Atlanta 1996 freuen. Insgesamt waren es sogar 107 Medaillen bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und französischen Titelkämpfen. Dreimal gewann Longo-Ciprelli die Tour de France. Statistiker zählten 1.091 Siege. In ihrem Heimatland wurde sie dafür als Sportlerin des vergangenen Jahrhunderts geehrt.
Michael Fruhmann, ORF.at
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