„Das Gefühl der Unbesiegbarkeit“
„Grenzwertig. Aus dem Leben eines Dopingdealers“: So heißt die Autobiografie des früheren Mittelstreckenläufers und Sportmanagers Stefan Matschiner, die am Dienstag erschienen ist. Im Interview mit ORF.at nimmt Matschiner dazu Stellung.
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ORF.at: Herr Matschiner, in Ihrem Buch schreiben Sie, Ihre Aktivitäten bei und mit Humanplasma unter Paul Höcker seien von oberster staatlicher Stelle zwar nicht angeordnet, aber gedeckt gewesen. Wie kann man sich das vorstellen?

APA/Roland Schlager
Matschiner im Mai 2009 nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis
Stefan Matschiner: Humanplasma war nicht meine Erfindung, ich war nur Nutznießer, ich wurde erst Ende 2004 Teil des Systems. Ich kann daher nur aus zweiter Hand und sehr vage berichten, wie alles begann. Aber es liegt auf der Hand, dass das grüne Licht von ganz weit oben kam. Nach dem Motto: „Helft unseren Athleten, Chancengleichheit herzustellen.“ Letztlich aber ist es eine Episode der österreichischen Dopinggeschichte, die sich selbst mir nicht zur Gänze erschließt. Es geht mir aber in dem ganzen Buch nicht darum, zu denunzieren, dieses Feld habe ich zur Gänze Bernhard Kohl überlassen.
Vielmehr möchte ich aufzeigen, wie dieser Teil des Sports in seiner Gesamtheit funktioniert. Es ist mir aber auch nur möglich, einen Teil der Gesamtheit wiederzugeben, das, was ich selbst erlebt habe. Sport ist eines der wichtigsten Dinge in unserer Gesellschaft, als Kulturgut, zur Erziehung der Kinder, als Prävention gegen Krankheiten aller Art. Die obersten staatlichen Stellen bis hinunter in die kleinen Vereine schaffen diese Rahmenbedingungen. Die Show des Leistungssports ist etwas völlig anderes. Eine Art Freakshow.
ORF.at: Was denken Sie heute über die Vorfälle in Turin, die Sie mehr oder weniger hautnah miterlebten?
Matschiner: Der Ausflug war es wert. Er hat mir jegliche Illusion bezüglich der olympischen Bewegung genommen. Liebloser als die Italiener kann man Spiele wohl nicht veranstalten. Nur Geschäft, das ist alles, was ich erlebt habe. In Bezug auf die ÖSV-Mitglieder kann ich nur sagen, dass Athleten auf ihre eigene Faust hin Dinge gemacht haben, die nicht hundertprozentig astrein waren.
Aber es ist völlig klar: Hätte man bei anderen Nationen die gleichen Maßstäbe angelegt, wäre wohl kaum ein Land ungeschoren davongekommen. Mir wurde von Nationen berichtet, die nach den Razzien ihre medizinischen Gerätschaften und Präparate eilig über die Grenze nach Frankreich geschafft haben.
Mindestens gleich großen Schaden hat die olympische Bewegung in Österreich aber durch die persönliche Bereicherung einzelner Funktionäre genommen. Ich bin der Meinung, dass immer noch nicht aufgeräumt wurde. Es sitzen jetzt wieder Personen in Gremien, bei denen das Outing noch ausständig ist, die dort eigentlich nicht sitzen sollten.
ORF.at: Sie behaupten in ihrem Buch, dass ihr Flug nach Turin 2006 vom ÖSV bezahlt worden sei.
Matschiner: "Ja, das hat mir Walter Mayer bestätigt. Das Flugticket wurde vom Verband am Flughafen Wien für mich reserviert.
ORF.at: Sie wurden nach den Dopingrazzien als Kurier aktiv und überbrachten einem Langläufer, als die Österreicher und strenger Beobachtung standen, Blut ins Olympiaquartier nach Pragelato. Zur späteren ÖSV-Untersuchungskommission fuhren Sie mit einem Kofferraum voll EPO. Hatten Sie nie Bedenken?
Matschiner: Ich tickte damals völlig anders: „Da wartet einer auf seinen Blutbeutel, und ich muss dafür sorgen, dass er mit gleichen Waffen den anderen gegenübertreten kann.“ Unter Beobachtung standen außerdem in erster Linie die Österreicher, ich aber kam ohnehin im Mietauto mit italienischem Kennzeichen. Und vor der Kommission mit ein paar Einheiten EPO zu erscheinen, war damals nichts Besonderes für mich. Es zeigt aus heutiger Sicht, wie verrückt mein Gehirn damals gearbeitet hat. Dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit, der Unverwundbarkeit, einfach verrückt.
ORF.at: Welche Rolle hat Walter Mayer in diesem System Ihrer Meinung nach gespielt? Opfer oder Täter?
Matschiner: Gibt es in diesem System Opfer und Täter? Oder wird diese Sichtweise nur projiziert, weil sie bequem ist? Mache ich mich schuldig, wenn ich als Athlet nach vielen Jahren harten Trainings die Entscheidung treffe, ganz oben mitspielen zu wollen, weil ich weiß, dass es die anderen auch machen? Mache ich mich als Berater oder Trainer schuldig, wenn mich mein Schützling über Monate um entsprechende Unterstützung anbettelt?
Opfer sind Jugendliche, die nicht wissen, was sie bekommen, jene, denen die Entscheidungsfreiheit genommen wird. Opfer sind die Breitensportler, die gefälschten Präparaten aufsitzen und damit ihre Gesundheit gefährden. Das ist zu verurteilen. Im Falle von Walter komme ich zur Konklusion, dass er Opfer ist. Opfer, weil das System den ausstößt, der nicht mehr ins System passt. Klar hat er Fehler gemacht, aber alles auf seinen Schultern abladen zu wollen, ist geradezu grotesk.
ORF.at: Hermann Maier wird in „Grenzwertig“ namentlich erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit einer Aussage Walter Mayers über Doping im Skisport.
Matschiner: Ich kann und werde mich nicht über Athleten äußern, mit denen ich nie direkt zu tun hatte. Hermanns Freundin ist eine langjährige Bekannte aus den Jugendtagen der Leichtathletik, als ich noch in Ebensee trainierte. Das ist die einzige Verbindung zu ihm. Walter wollte vermutlich darauf hinweisen, dass der alpine Skisport dopingtechnisch gesprochen keine Insel der Glückseligen ist.
Es gelten dieselben Gesetzmäßigkeiten wie anderswo. "Je besser du das Training verkraftest, desto mehr kannst du im trainingswirksamen Bereich arbeiten. Mayer war der Erste, der das verstanden hat. Andere, die physisch nicht so stark waren, brauchten vielleicht medizinische Unterstützung.“ Ich interpretiere Walters Zitat als Versuch, den Menschen die Augen zu öffnen. Seine Gedanken kenne ich aber nicht.
ORF.at: Ein Radfahrer, den Sie schon 2005 bei der Tour de France betreuten, und der wegen eines überhöhten Hämatokritwertes die Tour „wie aus heiterem Himmel“ beenden musste, war im Peloton damals nur einer Ihrer Kunden. Er wurde offiziell nie überführt. Wer waren die anderen?
Matschiner: Diese Frage müsste ich mit Namen beantworten. Dann hätte ich mir die Pseudonyme im Buch aber gleich sparen können. Jene Sportler, die nicht bereit sind, sich zu outen oder nie überführt wurden, werde ich nicht nennen. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, Existenzen zu bedrohen oder gar zu vernichten. Nochmals: Es geht mir nicht darum, einzelne Athleten, Funktionäre, Trainer zu beschmutzen. Am Ende des Buches soll der Leser auch nicht sagen: „Ich schaue mir nie wieder Leistungssport an!“ Er soll sagen: „Ich sehe ihn mir mit anderen Augen an.“
ORF.at: Allerdings gab es damals auch einen Österreicher, der die Tour unerwartet aufgeben musste.
Matschiner: Die Nationalität des Sportlers wird in meinem Buch nicht genannt. Es geht auch hier ums System. Ein erhöhter Hämatokritwert müsste eine unverzügliche Sperre nach sich ziehen. War aber nicht so. Warum muss ein Radprofi am nächsten Tag die Etappe in Angriff nehmen und vorzeitig beenden? Muss die Tour sauberer präsentiert werden, als sie ist?

APA/Roland Schlager
Diese Blutzentrifuge wurde in Matschiners Wohnung in Budapest beschlagnahmt.
ORF.at: Im Zuge der „Wiener Blutaffäre“ wurden u. a. das Team Rabobank, das bei Humanplasma vorstellig geworden sein soll, und einzelne Fahrer wie Michael Rasmussen genannt.
Matschiner: Nochmals: Ich lehne es aus tiefem Herzen ab, Athleten zu denunzieren. Es würde nur dazu führen, dass wieder die selbst ernannten Saubermänner auf die Barrikaden steigen und sagen: „Aha, ein paar schwarze Schafe.“ Der Realität näher wäre es, die paar weißen Schafe zu nennen, die es gibt.
Wie im Rest des Buches steht mein eigenes Handeln in dieser skurrilen Parallelgesellschaft Leistungssport im Mittelpunkt. Wie ich seelenruhig ins Hotel hineinspaziere, neben Lance Armstrong im Lift stehe, mit dem Blutbeutel im Hotelzimmer verschwinde, mein blutiges Geschäft verrichte. Völlig unaufgeregt. Als wäre es das Normalste der Welt. Was es mit etwas Abstand aber natürlich nicht ist.
Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, wer noch zu Matschiners Kunden gehörte, warum Matschiner selbst dopte, und weshalb es doch noch Hoffnung für den Spitzensport gibt: „Meine Fußballer wurden nicht besser“.
Das Gespräch führte Michael Fruhmann, ORF.at
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