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Fußball ist alles und nichts

Wo heute 40.000 Studenten eingeschrieben sind und vor vielen Jahren ein gewisser Michail Gorbatschow seine akademische Ausbildung genossen hat, feiern dieser Tage Zehntausende Fans aus aller Welt die WM, den Fußball und sich selbst. Im riesigen Park-Areal der Moskauer Lomonossow-Universität steigt vier Wochen lang täglich das „FIFA-Fanfest“. Die russische Hauptstadt steht auf dem Reiseplan aller Fans - egal ob deren Teams in der Gruppenphase im Luschniki- oder Spartak-Stadion spielen oder nicht. In Moskau schlägt daher das Herz der WM 2018.

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25.000 Besucher wurden für die Fanzone auf den Sperlingsbergen zugelassen. Mindestens so viele jubelten dort, als das russische Team das Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien mit 5:0 gewann. Das Luschniki-Stadion ist von der Aussichtsplattform an einem Ende des „Fanfestes“ herrlich zu sehen. Vom Hügel aus hat man einen atemberaubenden Blick über die beeindruckende Stadt, deren Einwohnerzahl offiziell mit zwölf Millionen angegeben ist, aber inoffiziell drei bis fünf Millionen mehr betragen soll.

Peruanische Fans vor der Basilius-Kathedrale in Moskau

ORF.at/Harald Hofstetter

Peruanische Fans vor der Basilius-Kathedrale beim Roten Platz im Zentrum Moskaus

Um die besten Plätze für ein Panoramafoto oder Selfie tobt ein „erbitterter“ Kampf, der aber oft in einem gemeinsamen Bild mit anschließender Verbrüderung endet - manchmal sogar mit einem Tausch der Trikots. Denn die Atmosphäre unter den Fans war schon in den ersten Tagen dieser WM einzigartig. Bei einem langen Spaziergang entlang der Moskwa, des bis zu 200 Meter breiten Flusses, trifft man innerhalb kürzester Zeit WM-Touristen aus unzähligen Ländern aller Kontinente. Daneben hupen die Autos im obligatorischen Verkehrsstau den fröhlich aufgekratzten Fans zu.

Wie Panini-Sticker sammeln, nur lustiger

Spätestens wenn man den Kreml umrundet und die Christ-Erlöser-Kathedrale, die berühmteste der mehr als 300 Moskauer Kirchen gesehen hat, fehlt einem keine der 32 teilnehmenden Nationen mehr. Die originellsten und farbenfrohesten Fans aus jedem Land zu fotografieren ist ein bisschen wie Panini-Sticker sammeln, nur lustiger und billiger. Von überall her kamen sie nach Moskau. Friedlich und ausgelassen begrüßen, bejubeln und besingen sich Anhänger aus Peru, Australien, Frankreich, Argentinien, Brasilien und Panama. Bei den Kopfbedeckungen sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Federn, Hüte, Kappen oder Helme in allen Farben gelten.

Argentinische Fans auf dem Roten Platz in Moskau

ORF.at/Harald Hofstetter

Argentinier bereiten sich beim Kreml auf das Spiel gegen Island vor

Die flächenmäßig gewaltige Fanzone bevölkern sie dann gemeinsam mit Fans aus Schweden, Costa Rica, Marokko oder Uruguay. Letztere bestritten am Freitag das frühe Nachmittagsspiel (15.00 Uhr Ortszeit), da war das „Fanfest“ bei der größten und renommiertesten Universität Russlands (gegründet 1755) auch schon prächtig besucht. Nur Schattenplätze sind vor den insgesamt sechs Videowänden Mangelware, Sonnenbrände also garantiert.

Viel Lachen, Lärm und Fußball

Körperlich fit sollte man hier ohnehin sein, denn schon der Marsch von den zwei möglichen U-Bahn-Anfahrtsstationen „Universitat“ und „Luschniki“ hat es in sich. Verirren kann man sich jedenfalls nicht, denn erstens folgt man den bunten Massen in Fantrikots, und zweitens stehen gefühlt alle zwei Meter drei bis vier Freiwillige oder „Volunteers“. In Violett gewandet und ausgesprochen gut gelaunt weisen sie mit großen Schaumstoffwinkehänden den Weg. Dabei bestehen sie auf mehrmaliges Einklatschen („Give me five“) mit allen Passanten - ohne Ausnahme.

Mexikos Fans, die bisher mit Abstand größte WM-Kolonie in Moskau, bedanken sich dafür in der Regel mit Gesängen. Hat man es dann durch die strengen Eingangskontrollen mit den obligatorischen Sicherheitsschleusen geschafft, „lauern“ schon die nächsten Schaumstoffhände, diesmal mit Megafonen. „Welcome to Moscow“ fegt es durch die Gehörgänge. Aus den Boxen schallt der russische Matchkommentar, der auch von den lautesten Fanrufen kaum übertönt werden kann. Gefährlich in Richtung Gehörsturz entwickelt sich die Lage dann in den Pausen zwischen den Spielhälften und den längeren Unterbrechungen zwischen den Spielen.

Ägyptische Fans in der Fanzone in Moskau

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Aus Ägypten reisten viele Familien an, um ihr Team anzufeuern - wer keine Stadiontickets hat, kommt in die Fanzone

Fanshop ist Pflicht, Nation oder Religion egal

Russische Bands der härteren Sorte geben alles. Interessanterweise zeigen sich davon vor allem die weiblichen Fans aus dem Iran und Marokko höchst angetan. Auch viele Familien sind da: „Mit Kind und Kegel“ aus Kolumbien oder Argentinien nach Moskau reisen - das kostet. Man kann die allgemeine Stimmung einfach nur als großartig bezeichnen. Überall laufen Gespräche zwischen den verschiedenen Fangruppen, wird gemeinsam Bier getrunken, gesungen, gehüpft.

Natürlich sind die FIFA-Sponsoren mit zahlreichen Werbeaktivitäten allgegenwärtig, und natürlich gibt es im Zentrum der Fanzone einen riesigen Fanshop. Aber was soll’s, alle haben Spaß und niemand benimmt sich daneben. Fußball ist in diesen Tagen in Moskau alles und gleichzeitig auch nichts. Nation, Religion, Alter oder Geschlecht sind in der WM-Zone herzlich egal. Man könnte sich fast wünschen, dass einfach immer WM ist - und nicht nur alle vier Jahre.

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