„Es war so irrwitzig schnell“
Vor knapp 30 Jahren hat der Automobil-Weltverband (FIA) mit der Einführung der Gruppe B in der Rallye-Weltmeisterschaft die Grenzen des Motorsports gesprengt. Kaum noch mit Serienfahrzeugen vergleichbar, kämpften bis zu 600 PS starke Boliden querfeldein um Sekunden und rasten dabei nur um Zentimeter an den jubelnden Zuschauermassen vorbei.
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Vor allem das Reglement ließ den Werkteams praktisch freie Hand und sorgte für eine Leistungsexplosion der Fahrzeuge. Der Audi Sport Quattro S1 katapultierte sich beispielsweise mit Handschaltung in 3,1 Sekunden auf Tempo 100 und in 11,8 Sekunden auf 200 km/h. Der Lancia Delta S4, der in seiner letzten Evolutionsstufe mit einem Kompressor und einem Abgasturbolader auf eine Höchstleistung von fast 600 PS getrimmt wurde, beschleunigte sogar in sagenhaften 2,4 Sekunden von null auf 100 - wohlgemerkt auf losem Untergrund.

Lancia
Der Lancia Delta S4 beschleunigte in 2,4 Sekunden auf Tempo 100.
„Für einen richtig guten Fahrer war es ein Genuss, damals zu fahren“, sagt der zweifache Rallye-Weltmeister Walter Röhrl im Interview mit ORF.at. „Es war so irrwitzig schnell, wie ein Ritt auf einer Gewehrkugel. Das Fahren hast du auch nicht lernen können, sondern hast du mitgekriegt mit der Geburt.“ Hinzu kam, dass ein WM-Lauf über fünf Tage ging und nicht wie heute üblich 1.000, sondern knapp 3.000 km lang war und auch in der Nacht gefahren wurde.
FIA öffnet Tür und Tor
Begonnen hatte der Geschwindigkeitsrausch zu Beginn der 1980er Jahre, als die FIA auf der Suche nach mehr Dramatik die extrem liberalen Bestimmungen für die Zulassung zur neuen Gruppe B vorstellte. Mussten die Hersteller bis dahin für ein Fahrzeug insgesamt 400 straßentaugliche Fahrzeuge produzieren, reichten ab 1982 für die Homologation in der neuen Klasse ab sofort nur noch 200 Wagen. Für jede Weiterentwicklung und Evolutionsstufe wurden danach sogar nur noch 20 Autos gefordert.
Nachdem die FIA den Rennställen damit Tür und Tor geöffnet hatte, überboten sich die Hersteller laufend mit Innovationen. Das Wettrüsten motivierte sogar Ferrari, ein Comeback im Rallye-Sport zu wagen. Da die Entwicklungskosten relativ gering waren, wurden immer stärkere und aufgrund der offenen Auspuffanlage extrem laute „Rallye-Monster“ konstruiert, die mit den entsprechenden Serienfahrzeugen kaum noch etwas zu tun hatten.
Um die enormen Kräfte überhaupt auf die Strecke zu bringen, wurden die Autos zudem mit riesigen Spoilern bestückt. „Man hatte kaum Zeit, die Angaben seines Beifahrers umzusetzen. Wer das glaubt, ist ein Träumer“, so Röhrl. „Alles lief wie im Film ab. Ich hatte zum Glück die göttliche Gabe, die Strecke dank meines fotografischen Gedächtnisses zu 90 Prozent im Kopf zu haben.“
Buchhinweis

Verlag Reinhard Klein
Walter Röhrl: Rückspiegel. Meine Laufbahn in Bildern. Verlag Reinhard Klein, 256 Seiten, über 300 Fotos, 49,00 Euro.
Autos kaum zu bändigen
Dass viele Fahrer ihre anfangs knapp 300 und in der Folge bis zu 600 PS starken Fahrzeuge nicht mehr unter Kontrolle hatten, war auch Röhrl klar. „Wenn man heute eine Skiflugschanze baut, auf der nur zwei oder drei Athleten einen Sprung stehen können, sagt man: Das ist Blödsinn, das kann nicht richtig sein.“ Um das Auto nämlich unter Kontrolle zu halten, waren die Piloten auf den Etappen laufend gefordert und durften sich keinen Konzentrationsfehler leisten.
Vor allem in den Kurven stießen die Fahrer immer wieder an ihre Grenzen. „Mit dem linken Fuß bremsen und dabei gleichzeitig auf dem Gas bleiben. Nur so hast du genug Belastung auf die Vorderachse bekommen, und die hast du gebraucht, damit beim Lenken überhaupt etwas passiert“, so Röhrl, der neben den beiden Finnen Markku Alen und Ari Vatanen sowie dem Schweden Stig Blomqvist und der Französin Michele Mouton als einer der prägenden Fahrer der damaligen Ära galt.

Audi
Für Röhrl und Co. war auf der Etappe Schwerstarbeit angesagt.
„Zwei Seelen in meiner Brust“
„Bei mir haben zwei Seelen in meiner Brust gewohnt“, gibt Röhrl zu. „Je schwieriger die Autos zu fahren waren, desto größer war natürlich der Vorteil für mich. Auf der anderen Seite hat der geringste technische Mangel zu einer Katastrophe führen können.“ Die Herausforderung war aber für den Regensburger ein Hauptgrund, überhaupt Rallye-Fahrer geworden zu sein. „Der Fahrer beherrscht das Auto, nicht umgekehrt. Mit Können kann man auch in einem unterlegenen Auto viel wettmachen.“
„Auf das bin ich in meinem Leben ohnehin am meisten stolz“, sagt Röhrl, der seine vier Triumphe in Monte Carlo (1980, 1982, 1983 und 1984) in vier verschiedenen Autos (Fiat, Opel, Lancia und Audi) gefeiert hat. „Nicht die ganzen Auszeichnungen, wie ‚Der Rallye-Fahrer des Millenniums‘ oder ‚Der beste Rallye-Fahrer aller Zeiten‘ sind für mich der größte Lohn, sondern gezeigt zu haben, dass der Fahrer die entscheidende Rolle spielt.“
Fans spielen mit dem Leben
Trotz oder gerade wegen der unkontrollierbaren Geschosse übte die Gruppe B auf die Fans eine ungeheure Anziehungskraft aus. Von den röhrenden Motoren wie paralysiert, warfen die Zuschauer alle Bedenken über Bord und positionierten sich ohne Sicherheitsvorkehrungen an den gefährlichsten Stellen entlang der Strecke. Viele standen sogar mitten auf der Fahrbahn und retteten sich erst im letzten Augenblick mit einem Sprung zur Seite.
„Wenn ich heute Videos sehe, bin ich schockiert. Damals hat man die Zuschauer aber ausgeblendet, das war einfach so“, gesteht Röhrl. „Man hat sich gedacht: Die sind immer weggesprungen, also werden sie auch heute springen.“ Viel Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, blieb den Fahrern ohnehin nicht. „Glaubst du, dass du das viele Geld von uns bekommst, damit du auf die Idioten aufpasst, oder dass du für uns gewinnst“, beschrieb Röhrl einen Disput mit seinem Teamchef bei Opel, der dem Deutschen eine zu defensive Fahrweise vorgeworfen hatte.

Peugeot
Oft genug hieß die Devise bei den Fahrern: Augen zu und durch.
Das Schicksalsjahr 1986
Wurde die Serie in den ersten Jahren bis auf wenige Ausnahmen von gravierenden Zwischenfällen noch verschont, schlug das Schicksal 1986 unbarmherzig zu. Auch weil die Fahrzeuge mittlerweile bei ihren Beschleunigungswerten locker mit den Formel-1-Rennwagen mithalten konnten. Auf der ersten Etappe der Portugal-Rallye verlor Lokalmatador Joaquim Santos die Herrschaft über seinen Ford RS200 und raste ungebremst in die Zuschauermenge. Vier Menschen starben, mehr als 30 wurden schwer verletzt.
Während die Rallye in Portugal auf Druck der Fahrer und Teams daraufhin wegen Sicherheitsmängeln abgebrochen wurde, zogen sich Röhrl und sein Werksteam Audi mit sofortiger Wirkung komplett aus der Gruppe B zurück. Lancia, Peugeot, Ford und MG wollten die Saison allerdings noch zu Ende fahren und forderten das Schicksal noch ein weiteres Mal heraus. Bereits auf der nächsten Station auf Korsika kam es nämlich zum nächsten tödlichen Unfall.
Feuerunfall von Toivonen
Der Finne Henri Toivonen kam mit seinem Lancia Delta S4 von der Strecke ab, überschlug sich mehrmals und prallte gegen einen Baum. Durch die Explosion der Benzintanks verbrannte das Auto fast vollständig. Toivonen und sein US-amerikanischer Beifahrer Sergio Cresto hatten keine Überlebenschance.
Die Saison wurde zwar mit den Teams von Peugeot, Lancia und MG noch zu Ende gefahren, die FIA stellte die Rennserie danach aber endgültig ein. „Die FIA hatte aber auch gemerkt, dass der Rallye-Sport der Formel 1 das Wasser abzugraben begann und die Zuschauer wegnahm“, glaubt Röhrl, der zurzeit für Porsche als Repräsentant und Testfahrer arbeitet. „Das Verbot hatte sicherlich auch politische Hintergründe.“
„Maultiere statt Vollblüter“
Einen Schlussstrich hinter ihre außergewöhnliche Motorsportkarriere zog mit dem Ende der Gruppe B auch Michele Mouton, die erfolgreichste Rallye-Fahrerin der Geschichte. „Wenn man es immer mit Vollblütern zu tun gehabt hat, will man nichts von Maultieren wissen“, sagte die Französin, die am 23. Juni ihren 60. Geburtstag feierte. Mouton hatte ihren männlichen Rivalen nicht nur Paroli geboten, sondern insgesamt vier Rallye-WM-Läufe gewonnen. 1982 musste sie sich in der Gesamtwertung nur knapp Röhrl geschlagen geben.
Trotz ihres Verbots im Jahr 1986 büßte die Gruppe B aber kaum an ihrer Faszination ein und hat bis heute ihre Fans. Regelmäßig sind einige Gruppe-B-Boliden noch bei Legenden-Rallyes zu bestaunen. Den Irrsinn dieser berühmt-berüchtigten Motorsportära beschrieb Röhrl im Vorwort zu seinem Buch „Rückspiegel“. „Den Jüngeren mag der Sport von damals abenteuerlich, gefährlich, wild, geradezu verrückt erscheinen. Glauben Sie mir: genau das war er.“
Wolfgang Rieder, ORF.at
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